Furtwänglers späte Schülerin
Die Pianistin Anastasia Injushina konzertiert mit der Hamburger Camerata
Hoppla. Wer die Künstlerbiografie von Anastasia Injushina zum ersten Mal liest, reibt sich verwundert die Augen. Denn die birgt mehr als nur eine Überraschung. Auf www.anastasiainjushina.com verzichtet die Pianistin darauf, ihren Lebenslauf runterzurattern oder Wettbewerbserfolge aufzulisten, wie es die meisten Kollegen tun, und sie erspart uns auch die Lektüre kilometerlanger Absätze mit sämtlichen berühmten Orchestern und Dirigenten, die ihr schon über den Weg gelaufen sind. Selbst das sonst übliche name dropping fällt bei ihr, die immerhin 1996 den berühmten ARD-Wettbewerb gewonnen hat, komplett flach. Stattdessen schreibt die russischstämmige Finnin Sätze wie: „Ich habe nichts über meine Studien zu sagen. Sie waren wie die jedes anderen jungen Musikers in Russland.“ Erstaunlich, oder?
Eher beiläufig erwähnt Injushina, dass sie manchmal von der Kritik gelobt wurde. Aber sie räumt auch ein: „Bei anderen Gelegenheiten hat es den Kritikern nicht gefallen.“ Und als ihre wichtigsten Lehrer nennt die passionierte Kammermusikerin Persönlichkeiten wie Walter Gieseking und Wilhelm Furtwängler, die sie natürlich nicht mehr live erlebt haben kann.
Diese Frau verweigert sich den gewohnten Erzählmustern der klassischen Erfolgsstory ziemlich konsequent. Das ist mutig. Und deutet wohl darauf hin, dass wir es mit einer sehr eigenwilligen Persönlichkeit zu tun haben. Ihre große Liebe zur Musik entdeckte sie schon mit drei Jahren – als die kleine Anastasia das Violinkonzert von Dvorák hörte. Am Ende ihres prägnanten Selbstporträts bekennt die Pianistin schließlich, die Beschäftigung mit dem Schaffen von Johann Sebastian Bach und dessen Söhnen gehöre zu den Höhepunkten der kommenden Saison.
Im November ist Anastasia Iniushina in Hamburg zu erleben: Beim zweiten Abo-Konzert der Hamburger Camerata unter Leitung von Ralf Gothóni mit dem Motto „Bach&Sons“ übernimmt sie den Solopart. Den Anfang macht Johann Sebastian, der Vater der genialen Sippe. Nach seiner C-Dur-Suite erklingt das Klavierkonzert E-Dur, dessen Ursprung nicht ganz geklärt ist. Der relativ schmale Tonumfang des Stücks legt nämlich nahe, dass das Konzert ursprünglich für ein anderes Soloinstrument gedacht war; vieles spricht für die Oboe – aber es gehört ja zur besonderen Qualität der Bachschen Kunst, dass seine Werke in den unterschiedlichsten Versionen immer große Musik bleiben.
Das Klavier, beziehungsweise Cembalo, spielte nicht nur im Schaffen von Johann Sebastian eine ganz zentrale Rolle. Genauso gilt das für seinen zweiten Sohn Carl Philipp Emanuel. Nachdem dieser 1768 die Nachfolge seines Patenonkels Georg Philipp Telemann als städtischer Musikdirektor in Hamburg angetreten hatte, versorgte er nicht nur die hiesigen Hauptkirchen mit geistlicher Musik, sondern schrieb auch einige seiner bedeutendsten Instrumentalwerke. Dazu gehören unter anderem die sechs Konzerte von 1772, deren Veröffentlichung den Hamburger Zeitungslesern als großes Ereignis angepriesen wurde: „Endlich können wir den Kennern und Liebhabern der Tonkunst die vollendete Ausgabe der sechs vortrefflichen Flügel-Concerte unsers berühmten Herrn Bach ankündigen, welchen sie schon lange mit einer ungeduldigen Erwartung entgegen gesehen“.
Sechs Konzerte drucken zu lassen, war damals eine kostspielige Angelegenheit und deshalb ungewöhnlich. Dass Bach dafür ziemlich viel Geld investierte, zeigt, wie wichtig ihm die Stücke gewesen sein müssen. Kein Wunder, schließlich präsentiert er in seinen „sei concerti“ eine Fülle neuer Ideen. Vor allem das zweite Konzert, das Anastasia Injushina mit der Camerata spielt, überrascht und verwirrt den Hörer mit vielen unerwarteten Kontrasten zwischen raschen und langsamen Episoden, zwischen energischen, sanften und schmerzlichen Momenten.
Dagegen schlägt Carl Philipps jüngster (Halb-)Bruder Johann Christian in seinem Klavierkonzert op. 7,5 einen sehr viel eleganteren Ton an, der spürbar vom Melos der italienischen Oper beeinflusst ist und bereits auf Mozart voraus weist.
Zwischen den Werken der beiden so unterschiedlichen Bach-Söhne hat sich noch das Stück eines geistigen Adoptivsohnes eingeschlichen: Arvo Pärts „Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte“, eine spritzig-witzige Hommage des estnischen Komponisten an den großen Johann Sebastian, in dem die Noten meistens im Schwarm auftreten und bienenfleißig um barocke Gesten herumsummen.
„Bach&Sons“ 2.11., 20.00, Laeiszhalle.
Das Konzert wird unterstützt von No Fear
MARCUS STÄBLER / Hamburger Abendblatt / 21. August 2012