Michael Tippett »A Child of our Time« | Sonntag, 10. November 2013
Erinnerung an dunkle Zeiten
Camerata, Kantorei und Solisten zelebrieren ›A Child of our Time‹ in der vollbesetzten Kirche
Die Zevener Kantorei wagte sich mit ›A Child of our Time‹ an ein gewagtes Stück heran, das es musikalisch in sich hat. Nicht selten geht es wild durcheinander, wechseln sich irrwitzige Taktarten in Dreiviertel und Zweidrittelklängen ab, dann wieder wird es ganz still, um im nächsten Moment wieder wie zu einer Flutwelle aus Musik anzuschwellen, die alles verschlingt – doch die Sänger haben sich dieser Herausforderung angenommen und sie geradezu bravurös gemeistert.
Eine der dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte jährte sich am 9. November zum 75. Mal – die Reichspogromnacht, in der im ganzen Land Juden verhaftet und in Konzentrationslager deportiert wurden, ihre Wohnungen und Geschäfte zerstört und geplündert wurden. Daran erinnert das Oratorium, das gemeinsam von rund 40 Streichern und Bläsern der Hamburger Camerata, 80 Sängern der Zevener Kantorei und vier Solisten in der St.-Viti-Kirche aufgeführt wurde.
Das Spektakel lockte viele Musikfreunde in das Zevener Gotteshaus, so dass an der Abendkasse nur noch wenige ›Hörplätze‹ zu haben waren. Die St.-Viti-Kirche platzte sprichwörtlich aus allen Nähten, selbst die Plätze auf der Empore waren besetzt. Und das dürfte nicht nur Kantor und Dirigent Andreas Borbe angesichts der durch die hohe Zahl an Beteiligten außergewöhnlich aufwändigen Inszenierung gefreut haben, sondern auch die rund 120 Akteure selbst.
Der Altarraum bot kaum ausreichend Platz für die vielen Sänger, die reiche Besetzung an Instrumentalisten und die vier Solisten, die das Werk mit der hohen Präzision und auch der spürbaren Harmonie zwischen allen Beteiligten zu einem emotionalen Erlebnis machten.
›A Child of our Time‹ ist dabei kein einfaches Oratorium, die Musik ist durchaus anspruchsvoll, nicht nur für die Instrumentalisten, sondern auch für den Chor und die Solisten. Der Dirigent muss dabei die Fäden in der Hand behalten, damit die Tempi nicht auseinander laufen, insgesamt also keine leichte Aufgabe. Immerhin hat das Stück eine Botschaft, es will aufrütteln, an die schlimmen Ereignisse während der Judenverfolgung in Deutschland erinnern, die Verzweiflung der Menschen darstellen, aber eben auch die Hoffnung wecken und versöhnlich stimmen. Die schneidenden, fast impressionistisch wirkenden Klänge der Trompeten, die hellen Stimmen des Chores beschwören winterliche Nebelschwaden herauf, die die Kälte der Nazizeit und den Totalitarismus unter Adolf Hitler symbolisieren.
»Wir werden in ein schreckliches Blutbad getrieben«, singt Nicole Dellabona (Alt). Der Chor antwortet zunächst seicht, schwillt dann zu einem unglaublichen Crescendo an, ein verzweifelter Aufschrei der Orientierungslosigkeit. Ein Aufschrei des Volkes, schwankend, unstet fragen die Stimmen der Kantorei, wann diese schlimme Zeit endlich ein Ende findet. Die große Bedrängnis, die innere Spannung und die überbordende Verzweiflung der Menschen, hier vor allem von einer Mutter und ihrem Sohn, werden von den Solisten Angela Umlauf (Sopran), Hans Christian Hinz (Bass) und Johannes Gaubitz (Tenor) ausgedrückt.
Jesus als Hoffnungsbringer
Am Ende des ersten Teils wird dieser Aufruhr aber vom gewaltigen Chor mit einem berührenden und hoffnungsvoll stimmenden Spiritual zur Ruhe gebracht. Doch nur für einen kurzen Moment, denn nach einem pastoralen, fast weihnachtlich anmutenden Beginn des zweiten Teils, der die Geburt des ›Kindes unserer Zeit‹ andeutet und dabei auch an die Geburt Jesus als Hoffnungsbringer der Menschheit meint. Dann der Höhepunkt. Der Mob ruft »Tötet sie! Sie verpesten den Staat!«. Gemeint sind die Juden, der Terror beginnt.
Doch damit ist das Leid noch nicht zu Ende. Die Musik ist geprägt von Einsamkeit, von Traurigkeit, von Stillstand und Verzweiflung, wenn Mutter und Sohn getrennt sind. Irrwitzige Taktarten, die so gar nicht zueinander passen wollen, geben der Arie des Soprans einen schwankenden, weinenden Rhythmus. Doch langsam keimt Hoffnung auf, auch wenn es heißt: »Die Kälte wird bitter. Die Welt versinkt in den eisigen Fluten. Dort liegt das kostbare Juwel.« Damit ist die Seele des Menschen gemeint, die am Tag der Erlösung leuchten wird wie die Sonne. Die Solisten verkünden die zentrale Botschaft der Hoffnung, die vom Chor immer wieder aufgegriffen und wiederholt wird und die am Ende in einem stimmgewaltigen Schlussakkord endet.
Überwältigendes Finale
Das letzte Spiritual war dabei für viele Zuhörer so wunderbar ergreifend, ja schier überwältigend arrangiert von der Kantorei, den Instrumentalisten und den Solisten so eindringlich gespielt und gesungen, dass es wohl niemanden kalt lassen konnte. Ein großartiges Werk, das von den Beteiligten mit großer Sorgfalt, aber auch viel Herz, Engagement und Leidenschaft umgesetzt wurde. Der lange Applaus mit stehenden Ovationen war da der mehr als verdiente Lohn für eine beachtenswerte Leistung.
Zevener Zeitung, 12.11.2013
Frauke Hellwig
zurück