Spielzeit 2012-2013
Der drei klingende Weltwunder aufs Programm setzt
Die Hamburger Camerata feiert den „Auftakt Gaudenz“ mit Mozarts letzten Sinfonien
Es ist der Verklärung Mozarts im 19. Jahrhundert zu verdanken, dass das nachgeborene Publikum ihn sich kaum als Menschen aus Fleisch und Blut vorstellen kann. Selbst die saftigen Anzüglichkeiten der „Bäsle“-Briefe sind nur ein weiterer Mosaikstein in dem unweigerlichen Schwarzweißbild: hier der göttlich begabte Tonsetzer, da der wonnevoll versaute Possenreißer. Fast scheint es, als hätte Milos Forman mit seinem Filmepos „Amadeus“ für alle Zeiten die Deutungshoheit über Mozart an sich gerissen.
Differenzierter, persönlicher, bewegender auch wird das Bild, wenn man Mozart in seinen Briefen durch den Alltag folgt. Da gibt der Herr Compositeur medizinisch fragwürdige Empfehlungen zur Ernährung seines Erstgeborenen, da scheinen Ehekrisen durch die Zeilen, Streitigkeiten mit seinem Vater und immer wieder: Geldnot. Im Juni 1788 bittet Mozart seinen Logenbruder Michael Puchberg wieder einmal um Geld. Wenn er ihm diese Freundschaft täte, so schreibt Mozart, könnte er „mit sorgenlosern gemüth und freyern herzen arbeiten, folglich mehr verdienen.“ Puchberg half – und Mozart schuf innerhalb weniger Wochen die Sinfonien Nr. 39 bis 41, darunter die berühmte „große“ g-Moll-Sinfonie und die ebenso berühmte „Jupiter“-Sinfonie. Es wurden seine letzten.
Dass Mozart die Sinfonien, anders als damals üblich, ohne Auftrag schrieb, hat die Nachwelt zu schwärmerischen Ausrufen wie „Vermächtnis für die Nachwelt“ oder gar „Appell an die Ewigkeit“ hingerissen. Dabei wollte Mozart schlicht gehört werden, und zwar von seinen Zeitgenossen. Doch auch ohne die Gloriole, die zu seinem Temperament und jungen Lebensalter nicht recht passen will, sind die drei Werke eine Kategorie für sich in Mozarts sinfonischem Schaffen. Simon Gaudenz greift also ins oberste Regalfach, wenn er alle drei auf das Programm seines Antrittskonzerts als Chef der Hamburger Camerata setzt, das das Ensemble lapidar „Auftakt Gaudenz“ überschreibt.
Mozarts Schaffen ist ein Kernstück in Gaudenz’ künstlerischem Selbstverständnis, das von einer vertieften Beschäftigung mit der historischen Aufführungspraxis geprägt ist. Der preisgekrönte junge Dirigent und junge Vater hat genaue Vorstellungen davon, wie er die Musik hören will. „Man kann im Konzert nur musikalisch frei sein, wenn man vorher unglaublich genau ist“, lautet sein Credo. Deshalb reist er mit Orchesterstimmen an, in die schon zur ersten Probe nicht nur technische, sondern vor allem auch musikalische Spielanweisungen eingetragen sind – ein Vorgehen, dass keinesfalls so üblich und selbstverständlich ist, wie es klingt.
Sich in den Proben nicht erst basisdemokratisch über Strich- und Artikulationsfragen auseinandersetzen zu müssen, spart natürlich auch Zeit und Kraft. Die können die Künstler gut anderweitig brauchen. Die Trias bildet in ihrer Dichte und Bandbreite des Ausdrucks nicht nur eine Art Schlussstein in Mozarts Sinfonien, sie schiebt auch einen schier erdrückenden Berg an Rezeptionsgeschichte vor sich her. Kaum ein Werk ist so oft und so unerbittlich auf Tonträger gebannt worden wie die g-Moll-Sinfonie, die Einspielungen zählen nach Dutzenden. Hier einen neuen Zugang zu finden und den Hörer vergessen zu lassen, dass das Thema das Kopfsatzes ihn schon manches Mal bis in die Fahrradabteilung eines Kaufhauses verfolgt hat, schon das ist eine spannende Aufgabe.
Mozart hätte sich eine solche Erfolgsgeschichte nie träumen lassen. Je eigenwilliger sein Stil wurde, desto weniger erreichte er in jenen Jahren noch die Öffentlichkeit. Es ist nicht einmal sicher, ob die Sinfonien zu seinen Lebzeiten überhaupt uraufgeführt wurden. Das mit dem leichteren Geldverdienen ist Mozart seinem Freund Puchberg schuldig geblieben. Zum Segen der Musikgeschichte.
VERENA FISCHER-ZERNIN / Hamburger Abendblatt / 21. August 2012